Transsexualität - Thorheiten

Thorheiten
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Transsexualität. Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? Eine Streitschrift.
Hrsg. Alice Schwarzer und Chantal Louis
Gelegentlich machen mich erst Reaktionen auf ein Buch auf den Inhalt desselben neugierig. Das ist vor allem dann der Fall, wenn eine scheinbar breite Öffentlichkeit sich in der Ablehnung des Geschriebenen einig scheint und gegenseitig die Solidarität angesichts fürchterlicher Menschenfeindlichkeit versichert. Wenn dann noch quasi vor meiner Kölner Haustür eine Ikone des Feminismus aufs Übelste beschimpft wird, frage ich mich schon, was da momentan los ist. Natürlich bekomme ich am Rande mit, dass als Transsexuelle erkennbare Menschen mit erhöhtem Risiko leben, Opfer von Diskriminierung und Gewalt zu werden, so wie viele andere Menschen, die nicht jenen völlig lebens- und realitätsfernen Kategorien extremistischer oder einfach auch nur extrem dummer Menschen entsprechen, die sich durch Religion, Politik oder anderen Größenwahnsinn dazu ermächtigt fühlen, „für Ordnung zu sorgen“. Dass jedoch ausgerechnet überzeugte Feministinnen zur Transfeindlichkeit aufrufen, schien mir kaum einleuchtend, und daher entschied ich mich, die Streitschrift von Alice Schwarzer und Chantal Louis selbst zu lesen – und ein anderes Buch zu entdecken, als ich in den meisten Kritiken beschrieben fand.

Ungeheure Gefahren für Kinder und Jugendliche?

Sie möchte, so notiert Alice Schwarzer im ersten Kapitel, auf die „ungeheuren Gefahren einer geschlechtlichen ‚Selbstbestimmung‘ gerade für Kinder und Jugendliche aufmerksam machen“ – und erlebt, dass sie u.a. deswegen als „transfeindlich“ beschimpft wird. Wer für welche Aussagen heute bereits als „transphob“ erkannt, oft genug einem Shitstorm ausgesetzt und gecancelt wird, darüber gibt Co-Herausgeberin Chantal Louis in ihrem Kapitel „Das Verschwinden der Frauen“ eine Übersicht. An diese Texte, die für das Thema „Transsexualität“ einen inhaltlichen Rahmen aufspannen, schließen sich Beiträge von Menschen an, die ihre je persönliche Sicht als auf die eine oder andere Weise Betroffene oder Professionelle auf verschiedene Aspekte schildern. So kommt z.B. der als Frau geborene Transmann und Genderwissenschaftler Till Amelung zu Wort, der sich für eine „intensive Begleittherapie“ bei körperverändernden Maßnahmen ausspricht, weil er erlebt, dass mit dem Bekenntnis zum Transidentität mittlerweile oft andere Herausforderungen bewältigt werden sollen als die vermeintlich nicht passende geschlechtliche Identität. „Seit einigen Jahren wird der begriff ‚trans‘ ja immer diffuser“, so Amelung. „Inzwischen kann man sich ja, wenn man nur das geringste Unbehagen mit Geschlecht und Geschlechterrollen verspürt, das Label ‚trans‘ aufpappen. Und das soll dann bitteschön auch nicht mehr weiter hinterfragt werden. Wenn man aber hört, wie diese Menschen sich beschreiben, scheint es offensichtlich, dass sie gar kein so tiefgreifendes Problem mit ihrem Geschlechtskörper haben. (…) Ich erlebe in den Onlineforen immer wieder Menschen, die sich als ‚trans‘ bezeichnen, aber ganz offensichtlich ganz andere Probleme haben. Ich hatte kürzlich mit zwei Fällen zu tun, bei denen es um verdrängten sexuellen Missbrauch ging. Der war aber in der Therapie gar nicht zur Sprache gekommen. Möglicherweise wollten sie sich mit einer Transition vor weiteren sexuellen Übergriffen schützen.“ Können solche Ideen und Warnhinweise bereits als „transphob“ gelten?

Langjährige Leiden oder Orientierung per Google?

Dr. Renate Försterling beschreibt, welchen Wandel sie als auf „Transidentitätsproblematik“ spezialisierte Internistin und Psychotherapeutin angesichts der Menschen erlebt, die wegen vermeintlicher Transidentität Hilfe suchen. Anfangs sei sie in Sachen Transidentität u.a. von psychotischen Menschen mit körperlichen Wahnvorstellungen, von jungen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung oder auch von homosexuellen muslimischen Männern außereuropäischer Herkunft aufgesucht worden, die Transsexualität aus je eigenen Motiven für sich entdeckt hätten. „Seit etwa acht Jahren bemerke ich folgende zunehmende Veränderung meiner PatientInnen: Sie wurden im Altersdurchschnitt immer jünger. Es kamen immer mehr Mädchen und junge Frauen“, so Försterling, die selbst eine Transition zur Frau vollzogen hat. „Ein Leiden, gar ein langjähriges, an den Geschlechtsmerkmalen des eigenen Körpers war immer weniger festzustellen. Viele hatten (noch) keine sexuellen Erfahrungen – zum Teil nicht einmal mit sich selbst. Eine prototypische Erzählung, die ich immer wieder hörte, könnte etwa folgendermaßen lauten: ‚Habe letzte Woche in der Disco einen Transmann gesehen. Es hat mich geflasht. Wusste sofort: So will ich auch aussehen! Dann habe ich gegoogelt. (…) Je mehr ich googelte, desto mehr entdeckte ich, dass die Welt voller Transmänner ist!“ Diese Menschen unterscheiden sich der Psychotherapeutin zufolge stark von jenen Menschen, die eine teils Jahrzehnte dauernde Leidensgeschichte mit von ihnen als falsch erlebten Körperteilen hinter sich haben. Für diese neue Zielgruppe vermisst die Ärztin eine qualitative therapeutische Beratung und erlebt, dass ein kritisches Hinterfragen des Trans-Erlebens gerade junger Menschen zu selten passiert. Diese Wahrnehmung wird gegen Ende des Buchs von mehreren Eltern geteilt, die erlebt haben, wie ihre jugendlichen Töchter in sehr kurzer Zeit für sich klar hatten, dass sie im falschen Körper lebten und ihre Eltern mit ihren Transitionswünschen konfrontierten. „Ich würde mir wünschen, dass in dieser ganzen Trans-Gender-Debatte das Kindeswohl auch mal eine Rolle spielen würde“, so eine Mutter. „Und dass wir die Maßstäbe, die wir in anderen Bereichen an die Reife eines Menschen ansetzen, auch hier geltend machen würden.“ Ist ein solcher Wunsch bereits transphob?

Schwarzer als "Soldatin des Patriarchats"?

„Argumentativ ist das Buch so schnell an die Wand zu klatschen, dass man keinen Shitstorm benötigen würde“, ist sich SPIEGEL-Kolumnistin Sibylle Berg sicher, und mutmaßt, dass Schwarzers Motivation zu diesem Buch eine „große Kränkung“ sei: „Aus Schwarzers Verteidigung der Schrift klingt so viel Entsetzen über das Verschwinden der Deutungshoheit und die große Kränkung der Veränderung der Zeit, dass man sie fast verstehen kann“, übt sich Berg in vermeintlicher Empathie, und gibt sich damit zumindest an der Oberfläche freundlicher als Dr. Michaela Dudley, die in der taz der „vermeintlichen Feministin“ Alice Schwarzer sowie Mitherausgeberin Chantal Louis die Kompetenz abspricht, eine Streitschrift zum Thema Transsexualität verfassen zu können – weil es sich bei beiden nicht um „trans* Personen“ handele, sondern um Menschen, die eine transfeindliche Agenda verfolgten. „Als gäbe es da noch was zu debattieren“, wettert Dudley gegen das von ihr Schwarzer unterstellte Ansinnen, Transsexualität generell in Frage zu stellen. „Vielleicht hat Schwarzer es in ihrem Bunker der Binarität nicht mitbekommen – aber Transsexualität und Feminismus gehen Hand in Hand. Allerdings gibt es Steinzeit-Genoss*innen, die nicht damit zurechtkommen: TERFS. Trans-exkludierende radikale Feministinnen, die, wie die Hexen-Dichterin J.K. Rowling, uns die Autonomie über den eigenen Körper, ja über das eigene Leben absprechen. De facto treten TERFs als Soldat*innen des Patriarchats in Erscheinung.“
Kritik mit ähnlichem Wortlaut wird vielerorts laut. Nach der Lektüre des Buchs von Schwarzer, Louis und ihren Gastautor*innen stellt sich mir jedoch die Frage, ob und wenn ja wie aufmerksam die jeweiligen Kritiker*innen den kleinen Sammelband überhaupt gelesen haben. Es mag sein, dass sie ihn in Händen hielten, auch von Seite zu Seite blätterten, und dabei wohl schon genau wussten, dass sie auf diesen die reine Transphobie finden werden – völlig ungeachtet des vor ihnen liegenden Inhalts, der nicht zuletzt von Menschen verfasst wurde, die transsexuell sind, ebenso wie von Menschen, die ihr Geschlecht gewechselt haben und nach einer Weile wieder „detransitioniert“ sind. Der Vorwurf einer grundsätzlich transfeindlichen Agenda scheint also an den Haaren herbeigezogen. Oder steckt etwa strategisches Kalkül hinter dem Interview-Kapitel mit der Transfrau Leandra Honegger, die 50 Jahre Lebenserfahrung als Mann sammelte, und im Gespräch mit den beiden Herausgeberinnen differenzierte persönliche Erfahrungen schildert? Zum Beispiel, dass sie sich bei jedem Orgasmus in ihrem Leben als Frau imaginierte, was schließlich zur Entscheidung beitrug, sich von ihrem Penis per Genitalchirurgie trennen zu wollen. Und dass sie trotz dieser bemerkenswerten Klarheit und Entschiedenheit innerhalb der Trans-Community bereits als „Untermensch“ beschimpft wurde, weil sie einen Unterschied zwischen Transfrauen und Frauen macht.

Indigene Transgender vs. LGBTI?

Susanne Schröter wirft einen Blick auf „Transgender in anderen Kulturen“ und antwortet damit auf einen Artikel der Kulturanthropologin und Transaktivistin Carla LaGata/Carsten Balzer. Schröter bestätigt, dass sich in außereuropäischen Kulturen Transgender-Identitäten finden lassen, legt jedoch dar, dass diese weniger Toleranz und Vielfalt der betreffenden Kulturen belegen, sondern vor allem die Binarität der Geschlechter bestätigen und eine Möglichkeit darstellen, sozial verachtete oder gar unter Strafe stehende Homosexualität zu umgehen. Die Professorin für Ethnologie kolonialer und post-kolonialer Ordnungen kommt zu dem Schluss, „dass das Phänomen der ‚dritten‘ oder ‚vierten‘ Geschlechter in außereuropäischen Peripherien nicht auf tolerante normative Genderordnungen hinweist, sondern die jeweils vorherrschende patriarchalische Binarität und Homophobie bestätigt und unterstützt“. Schließlich weist die Ethnologin daraufhin, dass sich zum Beispiel in Indonesien indigene Transgender von urbanen LGBTI distanzieren, um nicht die Verachtung von Islamisten auf sich zu ziehen, die in der Transsexualität der LGBTI importierte westliche Dekadenz erkennen. Gleichwohl dieses Kapitel kaum über eine Skizze hinauskommt, so deutet es verschiedene Konzepte von Transsexualität auf eine Weise an, die beim Lesen eher Neugier weckt und nicht transphob erscheint.

Entspannter Umgang mit Transsexualität?

Für mich als außenstehenden Mann bietet sich nach der Lektüre und im Presse-Echo rund um dieses Buch eine zuweilen verwirrende Szenerie: Da gibt es also trans* Frauen, die wiederum Transfrauen vorwerfen, Transphobie zu verbreiten… Bin ich der einzige, dem angesichts solch widersprüchlich anmutenden Durcheinanders die Frage in den Sinn kommt, ob nicht ganz andere Menschen, deren Angst vor und Verachtung von Minderheiten nahezu jeglicher Couleur auch Transphobie nährt, sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen über diese Feindseligkeit unter Menschen, die zumindest behaupten, für eine vielfältige Gesellschaft zu streiten?
Wie bei jedem anderen Buch ist natürlich auch bei dieser „Streitschrift“ jede*r eingeladen, sich ein eigenes Urteil – bestenfalls nach der Lektüre – zu bilden. Vielleicht kann ja das Schlusswort der zuvor zitierten Leandra Honegger helfen, sich dem Buch halbwegs unaufgeregt zu nähern? „Ich wünsche mir einen entspannteren Umgang zwischen Transmenschen und Radikalfeministinnen. Keine Anschuldigungen, sondern Gesprächsbereitschaft. Für Deutschland wünsche ich mir eine zeitgemäße Reform des Transsexuellengesetzes, welches auf die Bedürfnisse von transgeschlechtlichen Menschen eingeht. Und keine Self-ID.“


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